Studie geht von 100.000 getöteten Irakern aus

Während die amerikanische Militäroffensive zur Einnahme der Stadt Falludscha ihren blutigen Höhepunkt erreicht, bringt eine Studie des medizinisch-wissenschaftlichen Magazins The Lancet die niederschmetternden Konsequenzen von Invasion und Besatzung für den Irak ans Licht. Die Zunahme der Sterblichkeitsrate im Irak in den letzten 18 Monaten zeigt, dass es seit dem amerikanischen Überfall am 20. März 2003 mindestens 100.000 zusätzliche Tote gegeben hat.

Iraker aller Altersgruppen und beiderlei Geschlechts unterliegen heute einer 58-mal größeren Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, als vor dem Krieg. Die Kindersterblichkeit - der prozentuale Anteil an Kindern, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben - hat sich mehr als verdoppelt. Amerikanische Luftschläge, Kampfhubschrauberattacken und die Bombardierung von dicht besiedelten Wohnvierteln, wie in Falludscha, haben zu den meisten gewaltsamen Todesfällen geführt.

Die entsetzliche Statistik leitet sich aus einer wissenschaftlichen Untersuchung ab, die zwei amerikanische Universitäten (die John Hopkins und die Columbia University) zusammen mit der Al Mustansirija Universität in Bagdad durchgeführt haben, und die die Sterblichkeitsrate vor dem Krieg mit der seit Beginn der Invasion vergleicht. Die Ergebnisse, die in der Ausgabe des Lancet vom 28. Oktober veröffentlicht wurden (siehe: http://www.thelancet.com/), stützen sich auf die Auswertung von Befragungen im September 2004, die bei 988 stichprobenartig ausgesuchten irakischen Haushalten in 33 verschiedenen Gebieten des Landes durchgeführt wurden.

In den befragten Familien waren vor dem Krieg 46 Personen gestorben, acht von ihnen Kinder. Nur einer dieser Todesfälle war durch Gewalt verursacht. Aber seit der Invasion starben in den gleichen Familien 142 Menschen, 21 davon Kinder. Von diesen Todesfällen wurden 73 durch Gewalt verursacht - 61 durch die US-Armee oder andere Besatzungstruppen.

Insgesamt 52 dieser gewaltsamen Todesfälle ereigneten sich in der mehrere Dutzend Haushalte umfassenden Gruppe in Falludscha - was heißt, dass die Todesrate in dieser Stadt auf ein erschütterndes Niveau von fast 200 Toten pro tausend Einwohnern gestiegen ist. Falludscha wurde im April von US-Kräften belagert und angegriffen und ist seit Juni ständigen Luftschlägen ausgesetzt.

Falludscha steht im Zentrum der irakischen nationalen Opposition gegen die US-Besatzung. Widerstandsgruppen in der westirakischen Provinz Anbar führen schon seit Beginn der Invasion einen Guerillakrieg und haben Ende 2003 die Kontrolle über Falludscha übernommen.

Um die ständigen Angriffe auf die Stadt und ihre Einwohner zu rechtfertigen, behaupten das US-Militär und die von den USA installierte Marionetten-Interimsregierung, in Falludscha sei das Hauptquartier der angeblich vom jordanischen Extremisten Abu Mussab al Sarkawi geleiteten Terroristengruppe. Die Führung des Widerstands hat immer bestritten, dass sich Sarkawi oder andere Terroristen in der Stadt aufhalten, und hat versucht, die Welt darüber zu informieren, dass die Opfer der US-Luftschläge überwiegend Zivilisten, Frauen und Kinder sind. Während der drei Wochen dauernden Angriffe im April sind alleine 600 bis 1.000 Falludschaner getötet worden.

Der Verlust an Menschenleben bei den befragten Haushalten in Falludscha war so hoch, dass die Forscher sich verpflichtet fühlten, ihn als Ausnahme zu betrachten, um das Gesamtergebnis der nationalen Erhebung der Todesrate nicht zu verfälschen. Dennoch kam die Studie zum Schluss, dass außerhalb von Falludscha 24 Prozent aller Toten im Irak eines gewaltsamen Todes gestorben sind, wodurch sich die Todesrate von fünf Todesfällen pro tausend Einwohnern vor dem Krieg auf 7,9 Todesfälle pro tausend Einwohnern danach erhöhte. Das bedeutet, dass die 24 Millionen Iraker seither 98.000 zusätzliche Todesfälle erlitten haben.

Die Autoren haben zugegeben, dass die Studie ihre Grenzen hat. Die statistische Basis ist schwach und die Forscher, die die Befragungen durchführten, mussten außerordentlich behutsam vorgehen und auf ihre eigene Sicherheit achten. Sie halten ihre Ergebnisse jedoch eher für zu konservativ. Die befragten Familien in Sadr City in Bagdad zum Beispiel - wo einige der intensivsten Kämpfe stattfanden und die meisten Opfer in der Hauptstadt zu beklagen waren - gaben an, sie hätten nach dem Krieg keine Familienmitglieder mehr durch Gewalt verloren. Dahinter steht möglicherweise die Furcht, die Befrager könnten von den Besatzungskräften benutzt werden, Familien herauszufinden, die die Milizen der Mahdi-Armee des schiitischen Geistlichen Moqtada al-Sadr unterstützen.

Die Studie ist schon die zweite unabhängige Untersuchung, die feststellt, dass die US-Invasion und die Besatzung des Irak Zehntausende Iraker das Leben gekostet haben. Eine Untersuchung der irakischen Gruppe Volks-Kifar (Peoples Kifar) kam zum Schluss, dass im Irak in den sieben Monaten von März bis Oktober 2003 37.000 Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Selbst die Website Iraq Body Count (Irakische Leichenzählung, http://www.iraqbodycount.net/), die nur die zivilen irakischen Todesfälle zählt, über die in den Medien berichtet wurde, hat jetzt eine Mindestzahl von 14.160 und ein Maximum von 16.289 gewaltsamen Todesfällen seit der Invasion errechnet.

Die entsetzlich hohe Zahl an zivilen Toten in Falludscha straft die ständige Propaganda der amerikanischen Armee Lügen, sie versuche, mit "Präzisionsschlägen" zivile Opfer zu vermeiden. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Es ist das vorrangige Ziel der Luftschläge und Helikopterangriffe, die Bevölkerung zu terrorisieren und die irakischen Einwohner dafür zu bestrafen, dass sie die Widerstandskämpfer unterstützen oder mit ihnen sympathisieren.

Außer hin und wieder ein paar Bildern im Fernsehen findet die Repression im Großen und Ganzen außerhalb des Gesichtsfelds der großen Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung statt. Die Erkenntnis, dass 100.000 Iraker infolge der US-Besatzung getötet wurden, war den großen amerikanischen Medien kaum eine Meldung wert und wurde im wesentlichen auch von den Zeitungen heruntergespielt. Wie schon vor der Invasion, verhalten sich die Medien in der Frage der Kriegsverbrechen der Bush-Regierung wie wahre Komplizen.

Das Gemetzel im Irak wurde auch vom demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry mit keiner Silbe erwähnt. Die Demokraten kritisierten das Vorgehen der Bush-Regierung bei der Irak-Besetzung ausschließlich von dem Standpunkt, dass die Gewalt noch verstärkt werden müsse, um "den Krieg zu gewinnen". In den Debatten vor der Präsidentschaftswahl erwähnte Kerry das unbefriedigende Ergebnis der Schlacht um Falludscha im April als Beispiel für die mangelnde Entschlusskraft Washingtons, den Widerstand zu zerschlagen. Er erklärte: "Ich will die Dynamik vor Ort verändern, und dazu muss man zuallererst aufhören, sich aus Falludscha und andern Orten zurückzuziehen."

Weil die Armee schon vor der Wahl wusste, dass sie unabhängig vom Wahlausgang die Unterstützung des Weißen Hauses haben würde, hat sie bereits Pläne für den Massenmord in Falludscha entworfen. Der kommandierende Offizier der Operation, Marine-Generalleutnant John Saddler, informierte Journalisten schon am 22. Oktober über die Schlachtpläne.

Laut einer Zusammenfassung dieses Briefings in der New York Times vom 27. Oktober werden weit über 5.000 US-Soldaten und Tausende Truppen der Interimsregierung zum Einsatz kommen. Einer Bodenoffensive wird eine "verschärfte Version der fast jede Nacht stattfindenden Luftangriffe" vorangehen, ausgeführt von zahlreichen Air Force und Marine Flugzeugen, die mit 500 Pfund schweren, lasergelenkten Bomben eine Anzahl vorbestimmter Ziele in der ganzen Stadt zerstören sollen. Bodentruppen werden dann "aus mehreren Richtungen" in die Stadt eindringen, wie die Times berichtete, und "Panzer-, Artillerie- und Mörserfeuer gegen aufständische Positionen eröffnen, die durch die dauernden Luftangriffe und das Blutvergießen der letzten Wochen bereits geschwächt sind".

Der Marine-Brigadegeneral Dennis Heklik sagte der Presse am Freitag: "Wenn wir richtig loslegen, werden wir sie schlagen."

Der Angriff wird auf eine Stadt gerichtet sein, in der laut US-Militärschätzungen immer noch mindestens 50-60.000 Zivilisten unter erbärmlichen Bedingungen in ihren Häusern leben. BBC berichtete zu Beginn dieses Monats, der Strom sei abgestellt, die Nahrungsmittel würden knapp und es gebe keinen Nachschub für die medizinische Versorgung. Schon 200.000 Bewohner der Stadt sind geflohen und haben bei Familien, Freunden oder Hilfsorganisationen in andern Teilen des Landes Unterschlupf gesucht.

Die Menschen, die geblieben sind, sind in erster Linie diejenigen, die keine Möglichkeit, keine Mittel oder keinen Willen mehr haben, wegzugehen - die Alten, Kranken, die Ärmsten der Armen, oder die Angehörigen derjenigen, die die Stadt verteidigen. Sie könnten sich schon bald inmitten eines vernichtenden Häuserkampfs befinden.

Die USA gehen davon aus, dass etwa 5.000 irakische Kämpfer in Falludscha ihre Stellungen in den letzten sechs Monaten ausgebaut und befestigt haben. Es gibt Berichte, dass der Widerstand viele Straßen und Gebäude mit Sprengstoff vermint hat, was zu hohen Verlusten auf Seiten der US-Soldaten führen könnte.

Die letzten vorbereitenden Stadien des US-Militärs scheinen schon angelaufen zu sein. Der irakische Interimsministerpräsident Iyad Allawi stellte am 28. Oktober ein weiteres Ultimatum, in dem es heißt: "Dies könnte die letzte Chance sein" für die Führer in Falludscha, Sarkawi und "ausländische Terroristen" auszuliefern und die Stadt den US-Kräften und den Truppen der Interimsregierung zu übergeben. Die Washington Post berichtete gestern, dass laut einem Militärsprecher die Marine-Frontsoldaten "nicht mehr dreimal am Tag eine warme Mahlzeit", sondern, um Essen für eine Offensive aufzuheben, "abgepackte Rationen zum Lunch erhalten".

Die Reaktion auf den amerikanischen Rachefeldzug gegen Falludscha besteht darin, dass in vielen irakischen Städten und Dörfern Aufstände gegen die Besatzung vorbereitet werden. Sunnitische Geistliche wiederholten am 29. Oktober ihren Aufruf zu Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams, um einen Abbruch des Angriffs zu erzwingen. Ein führender Geistlicher in Bagdad, Mahdi al-Sumaidaei, drückte die im Irak weitverbreitete Haltung zu den US-Behauptungen aus, dass Terroristen Falludscha kontrollierten, als er den Medien sagte: "Jeder weiß, dass Abu Mussab al Sarkawi eine weitere Lüge ist, genau wie die Massenvernichtungswaffen."

Al Jazeerah berichtete gestern über "heftige Kämpfe" zwischen den Widerstandskämpfern und US-Truppen im Außenbezirk von Ramadi, der Hauptstadt von Anbar, etwa 50 Kilometer östlich von Falludscha. Laut einem Bericht in der Washington Post vom 28. Oktober befindet sich die Marinegarnison in dieser Stadt im Belagerungszustand. Ein Marineoffizier erklärte: "Die [von den USA eingesetzte] Provinzregierung steht kurz vor dem Zusammenbruch. Mehr oder weniger alle sind zurückgetreten oder ziehen sich gerade zurück." Ein anderer amerikanischer Offizier erklärte: "Überall gibt es Aufstandsaktionen. Das ist auch hier so, trotz unserer starken Garnison. Auch unter Frauen und Kindern."

Wenn Falludscha an die US-geführten Truppen fällt, wird das nur dazu führen, die Opposition gegen die Besatzung des Irak noch zu verstärken. Das kriminelle Vorhaben des US-Imperialismus, den Nahen Osten und seine Energieressourcen zu kontrollieren, und die mörderischen Aktivitäten der US-Armee haben nur albtraumartigen Tod und Zerstörung über das irakische Volk gebracht.

Siehe auch:
Diskussionsveranstaltung in Dublin: WSWS-Chefredakteur David North verurteilt den Irakkrieg
(19. Oktober 2004)
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